Ausstellungen

 

 

Ansprache Dr. Michael Becker / Schulleitung wfk

 

Sehr geehrte Damen und Herren, 

herzlich willkommen zur Eröffnung von Who's next? Vol. 6! Wieder einmal finden nahezu 2 Dutzend Künstlerinnen und Künstler den Weg in unsere Ateliers, um ihre Arbeiten zur öffentlichen Diskussion zu stellen.

Ich frage mich öfters, ob in den zahlreichen Werken, die einer gemeinsamen kulturellen Epoche entstammen, Anzeichen der heutigen Zeit, des aktuellen Zeitgeistes erkennbar wären bzw. erkennbar sein müssten.

Stellen wir uns etwa eine Generation von Menschen in etwa einhundert Jahren vor. Und ihr stünden nur die Kunstwerke der heutigen Zeit zur Verfügung. Was würde das Ergebnis ihrer Forschung sein? 

Wäre eine spätere Generation überhaupt noch in der Lage, objektive Forschung zu betreiben? Bereits heute müssen wir von einer Erosion von echter, unabhängiger Wissenschaft sprechen. Das, was heute Wissenschaft genannt wird, ist keine. Sie ist eine von Konzerninteressen abhängige Melkkuh. Warum sollte es in hundert Jahren anders sein? Vielleicht weil die Künstler von heute einen veritablen Aufstand gegen das System initiiert haben? Ist ein solches Aufbegehren in den aktuellen Werken wahrnehmbar? Menschliche Regungen sind auf jeden Fall zu verzeichnen: Deformierte Köpfe einer Brigitte Emsermann, explosive Farben eines Uwe Kraus-Fu oder Herbert Wegelin, farbig Fließendes einer Bianca Scholl, die statische Bändigung der Farbe durch Petra Kaars-Wiele, die biologischen Fantasien eines Michael Stork, der stürmische Duktus eines Christoph Grischa, der expressionistische Kopf eines Hans Martin Heinemeyer, Rotierendes und Musikalisches einer Elke Holm, Landschaftliches einer Grete Späck, Posierendes eines Thomas Rischmann, Herbstliches einer Marie Vrbská, dunkles Beziehungsklangliches einer Gesilla Tietze, primärfarblich Verteilungskompositorisches einer Michaela Proske… Doch sind dies Merkmale einer humanistischen Zeitenwende, in der Künstler ihre Sorge um die Zukunft artikulieren? Oder genießt die Kunst ihr Nischendasein als bloßer Zeitvertreib einer satten Wohlstandsgesellschaft, unverdächtig eingeklinkt in die Praxis gewordene Postmoderne eines Anything goes, egal was, Hauptsache mein Ego wird gestreichelt? 

Betrachten wir die Werke unseres persischen Freundes Abo Tavassolie, so ist hier eine narrative Komplexität codiert worden, ein stilisierter Lebensausdruck in Form eines geometrischen Realismus mit sicherlich nicht nur positiven Lebenserfahrungen. Hat eine Generation in hundert Jahren hier etwa eine kritische Authentizität zu verarbeiten? Darf sie schlussfolgern, dass es auch Menschen gab, die einen kritischen Blick künstlerisch umgesetzt haben?

Es wäre interessant zu wissen, welches Mindset spätere Generationen haben werden. Ist es nicht die Aufgabe von Künstlern, dieses mitzuformen, zukunftsweisende Perspektiven zu generieren?

Sicherlich ist es legitim, wie von Verica Berndt getan, zeichnerische Abbildungen von Marilyn Monroe oder anderen bekannten Persönlichkeiten anzufertigen, Aktfotografien in ein auf alt getrimmtes Surrounding zu stellen, danke hier an Stephan Joachim, formalästhetische Klänge fotografisch zu generieren, danke an Christel Käßmann, Farben delikat zu verarbeiten, danke an Tina Nyehuis, schöne Stilleben technisch aufwendig zu malen wie von Esila Bucak etc. Fragen wir uns aber einmal, welchen Wert sie einer Generation in hundert Jahren vermitteln! Was wird sie von uns denken? Zum Beispiel: “Wollten die Menschen von damals nicht sehen? Wollten sie der Wahrheit über sie und der Verfasstheit ihrer Lebenswelt nicht auf den Grund gehen?” Oder wird die zukünftige Generation folgendermaßen denken: “Mensch, unglaublich, was Menschen damals noch durften bzw. was sie sich einfach so herausgenommen haben, heute ist unser Denken so eingenordet, dass ein individueller Ausdruck verpönt ist. Wir fertigen Bilder von unseren Koryphäen an, die uns das Selberdenken ausgetrieben haben. Denn Selberdenken führt zu Freiheit, diese mögen unsere Vordenker gar nicht. Und wir auch nicht. Unser Bedürfnis nach Freiheit ist endlich abgestellt worden, wir machen alles, was die uns oben sagen, sie sorgen für unsere Ernährung, unsere Gesundheit, sie wissen, was das Beste für uns ist, wir wollen und können nicht mehr selber entscheiden. Wir vertrauen ganz der "Wissenschaft". Wenn wir uns anständig verhalten, bekommen wir unsere Ration an Geld, Nahrung, Wohnung, Leben zugeteilt. Dissidenten, Gedankenverbrecher werden hart bestraft. Diese Bilder sind unglaubliche Gedankenverbrechen, faszinierend, aber unmöglich.” 

Nun, wir müssen uns entscheiden: Mit welcher Art von Kunst, mit welchem Mindset können wir zukünftige Generationen davon überzeugen, dass es sich lohnt, selber zu denken? Es müsste eine geistige Bewegung sein, die die heutigen Anklänge zu einer unfreien Welt entlarvt und hinter sich lässt. Es müssten Werke sein, die eine so enorme Kraft des geistigen Widerstands ausstrahlen, dass Menschen gar nicht anders könnten, als von ihr angesteckt zu werden.

Wie können wir verhindern, dass unsere Bilder jemals als Gedankenverbrechen geächtet werden? Sicherlich nicht dadurch, dass wir vermeiden, Gedankenverbrechen zu begehen. 

Ich danke allen Beteiligten dieser Ausstellung herzlich, dass Sie an diesem Projekt mitgewirkt haben. Es wäre zu wünschen, wenn Bilder in der Lage wären, eine dystopische Zukunft zu verhindern.

Das führt mich zu der traurigen Nachricht, dass der Entwurf des Kämmerers der Stadt Wiesbaden für den städtischen Haushalt drastische Kürzungen im Kulturbereich ab nächstem Jahr beinhaltet. Sollte dieser Entwurf von der Stadtverordnetenversammlung jetzt am Donnerstag abgesegnet werden, bedeutete dies einen kulturellen Kahlschlag, der ähnlich zum beobachtbaren Sterben des Mittelstandes als die tragende Säule eines florierenden Wirtschaftssystems ein kulturelles Sterben einläutete, das ungeahnte Folgen für humanistische Bildung und kritisches Denken für viele Generationen haben dürfte. Wenn Sie wollen, dass Kultur, kritischer Geist, Kreativität für unsere Gesellschaft erhalten bleiben, dann müssen Sie jetzt auf die Straße gehen und endlich Nein sagen! Nein zu politischen Entscheidungen über die Köpfe und Interessen der Bürger hinweg, Nein zu institutioneller Korruption und Ausverkauf unserer Errungenschaften, Nein zu einem Mediensystem, das nicht mehr nach der Wahrheit sucht, sondern Ideologien nacheifert, Wissenschaft für diese instrumentalisiert, Kriege für gut heißt und nichts gegen ein militärisches Sondervermögen in hunderte Milliardenhöhe zu sagen hat. Nein zu einer Regentschaft einer Minderheit, die alle Werte umkrempelt und diese als modernes Heilsversprechen adelt: Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke. Helfen Sie mit, dass die Dystopie von George Orwell nicht noch mehr Realität wird! Am Donnerstag findet eine Demonstration der von den Kürzungen betroffenen Sozialträger statt. Wir bitten dringend um tatkräftige Unterstützung!

In eigener Sache darf ich Sie auf unser Projekt für den 29. Oktober aufmerksam machen, das diesmal unter dem Motto “Monster” läuft. Jeder ist eingeladen, bis in die dritte Oktoberwoche hinein seine Werke zum Thema Monster einzureichen. Wir freuen uns sehr auf Sie!

Und jetzt noch einen tosenden Applaus für Dinda Lestari, die uns dieses Jahr schon so oft mit ihren Ideen und ihrem Engagement beglückt hat! Genießen Sie die Zeit, solange es noch geht!

Vielen Dank!

 

 

 

 

Wolfgang Becker